Ratschläge für den Umgang
mit „unbehinderten” Menschen
Ein Cartoon zur Darstellung behinderter Menschen ©AUVA
Zwei Jahre nach meiner Geburt erkrankte ich an Poliomyelitis (Kinderlähmung) wahrscheinlich einer der letzten Krankheitsfälle zur damaligen Zeit. Nach einer Vielzahl von Krankenhausaufenthalten und Behandlungsodyseen versuchte ich, mit einer hochgradigen Kyphoskoliose und Muskelatrophien an allen Extremitäten ein eingeschränktes, aber fast normales Kinderleben zu führen. Ich besuchte die Regelvolksschule in St. Ulrich innerhalb eines normalen Schulbetriebes, nur der Weg von und zur Schule war im Winter manchmal mühsam, wobei meine Großmutter immer eine Lösung fand.
1970, ich besuchte die 4. Klasse Volksschule, wurde ich zum Zwecke eines weiteren Rehabilitationsversuches in die Emigration verschickt, in die steiermärkische Diaspora "Sonderheilstätten Stolzalpe". Vier Jahreszeiten zogen an meinem Krankenzimmer vorbei, ohne daß eine wesentliche Verbesserung meiner "Behinderung" erreicht wurde. Nicht gerade wiedergenesen, jedoch in der Lage, als Kärntner die steirische Landeshymne fehlerfrei bis zu letzten Strophe zu singen, wurde ich wieder in die Heimat entlassen.
Der nächste Schritt: ich wechselte vom kleinstrukturierten St. Ulrich in das großzügig angelegte Bildungsangebot nach Feldkirchen mit dem Ziel, dort eine ganz normale Regelhauptschule zu besuchen. Dank der visionären Eigenschaften der Hauptschuldirektoren Mitschka und Weißmann war mein Vorhaben kein Ding der anfänglichen Unmöglichkeiten. So besuchte ich klaglos eine Integrationsschule, ohne den Terminus "Integration" strapazieren zu müssen. Für damalige Zeiten ein edukativer Quantensprung nach vorne. Die Hauptschuljahre verliefen unauffällig gleich denen der nichtbehinderten Jugendlichen, bis ... ja bis die Schergen der Arbeitsämter unter dem Arbeitstitel "Berufsberatung" - eine damalige Sitte - versuchten, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Da kein Berufsbild so richtig zu meiner "Behinderung" passte, blieb nur noch die Alternative eines weiteren Schulbesuchs übrig. Nun beseelt von dem Wunsche, in die Wissenschaft des Handels, der Wirtschaft und Betriebsführung einzutauchen, schritt ich zur Aufnahmeprüfung für die Handelsakademie. Der damalige Direktor der Feldkirchner Handelsakademie, von integrativen Visionen weniger begeistert, entschied sich - aus Sicherheitsgründen für mein "Leib und Leben" - für eine Nichtaufnahme. Nun war ein Jahr Pause ohne Schulpflichten angesagt, so pflegte ich die nächsten Monate "die unerträgliche Leichtigkeit des Seins". Schon im September darauf verließ ich die Geborgenheit der Provinz um im urbanen Wien, Zentrum für Bildung und Kultur, eine stinknormale Handelsschule für Behinderte zu besuchen. Eine Handelsakademie war für Behinderte damals noch nicht Bedarf. Dieser Umstand egalisierte sich immer mehr im Laufe meines edukativen Werdegangs, denn meine schulischen Leistungen ließen im denselben Maße nach, als meine Interessen für die Segnungen einer Großstadt - auch Wiener Nachtleben genannt - zunahmen. Der zur Phrase gewordene Gedankensplitter: "Hast du Wien schon bei Nacht gesehen?" - stammt aus dieser Zeit. Die Sollzeit für den Besuch einer Handelsschule war verbraucht, meine Leistungen mäßig, die Schulzeit unspektakulär, wenn man vom Einsturz der Reichsbrücke absieht. Nun das Maximum an Bildungsmöglichkeiten eines durchschnittlich begabten "Behinderten" aufgebraucht habend, kehrte ich Wien den Rücken und zog über den Semmering wieder Richtung Heimat, St. Ulrich, zu meiner Großmutter. Nun musste ich, was jeder gelernte "Behinderte" in Österreich müssen muss: mich einer Feststellungsuntersuchung, ob man sich zum Kreis der "begünstigten Behinderten" hinzuzählen darf oder nicht, unterziehen. Diese Untersuchung oder Prüfung konnte ich auf Anhieb für mich entscheiden. Highest Score, 100 Points. 100 von hundert möglichen Punkten entschieden, dass ich nicht zum Kreis der "begünstigten Behinderten" gehöre und somit nicht in ein aktives Berufsleben integrierbar bin. So zertifiziert, war ich von nun an mir selbst überlassen, ich konnte so richtig mit der Seele baumeln und nach italienischer Lebensart das "dolce far niente!" genießen.
Nach Trübsal und Müßiggang kam ein Freund, er war Fernfahrer, auf die Idee, ihn auf seinen Transportreisen zu begleiten. Nichts sprach dagegen, Zeit hatte ich. Mein Freund Sepp wusste, worauf er sich mit mir einließ, und so konnte die erste Fernreise eines "Schwerbehinderten" per LKW starten. So profitierten wir beide von einander, ich hatte wieder ein Stück Lebensfreude und Herausforderung und er, mein Freund, hatte eine Art Gesellschafter zur Vertreibung der Langeweile auf diesen sehr, sehr langen Fernfahrten. Unser erstes Reiseziel war Al Meria im Süden Spaniens. Auf diese abenteuerliche Art bereiste ich dank meines Freundes ein großes Stück unseres Kontinents - von Tanger/Nordafrika über Spanien, Italien bis Südosteuropa, Bulgarien, Griechenland ehem. Jugoslawien. Dieses Abenteuerleben nahm Ende der achtziger Jahre mit dem tragischen Tod (Verkehrsunfall/Arbeitsunfall) meines Freundes Sepp leider ein trauriges Ende. Ein großes Stück Lebenserfahrung rührt aus dieser Zeit.
Durch die vielen Reisen erkannte ich die Wichtigkeit der Mobilität. Eine unabhängige Mobilität, Mobilität durch ein KFZ. Die Erlangung eines Führerscheins für einen "Schwerbehinderten" war wie eine Begegnung der besonderen Art und mutierte beinahe zu einer "never ending story II". Doch als gelernter Österreicher mit den widersprüchlichen Widrigkeiten der involvierten Amtsträger schon vertraut, schaffte ich unter Umwegen auch diese nicht leichte Hürde. Denn erst in der Millionenstadt Wien sah man sich imstande, mir mit entsprechendem KFZ-Equipment das "AUTOFAHREN" beizubringen. Nach zweiwöchigem Intensivkurs im Wiener Stoßverkehr war ich nun mobil mit der Lizenz zum Fahren. Die Finanzierung meines ersten PKW war ein wenig Erspartes, der Rest wurde durch "charitiy and sponsorship by Onkel and Tante" organisiert.
Erst die Mobilität und die Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr katapultierte mich, im wahrsten Sinne des Wortes, in das Computerzeitalter. Und so kam es: Ein LKW, stets in Eile, beanspruchte partout jenen Verkehrsraum, den mein KFZ gerade inne hatte. Der Ritter der Landstraße, abgelenkt durch CB-Funk, Radio oder andere wichtige Nebensächlichkeiten katapultierte mein linksabbiegendes KFZ ungebremst in den Grünraum, der so üblich links und recht an den meisten Straßen angeordnet ist. Das Ergebnis: mein KFZ war als solches nicht mehr brauchbar, ich erlitt eine mittelschwere Verletzung, wobei meine "Behinderung" nicht in Anrechnung kam. Nach rascher Genesung und intensivem Studium der Rechtsprechung und Straßenverkehrsordnung direkt an der Praxis erhielt ich, nach einer Vielzahl von Gerichtsverhandlungen in fast allen Gerichtssälen im Landesgericht Klagenfurt, eine Art Entgelt für mein körperliches Ungemach - auch Schmerzensgeld genannt. Diese ansehnliche Summe mit den Zinsen und Zinseszinsen investierte ich sozusagen in meine private Weiterbildung, ich erstand meinen ersten PC mit allen wichtigen Peripheriegeräten.
Der anfängliche Umgang mit Bits und Bytes war sehr mühsam, denn mein erster Computerlehrgang war nach der Art "learning by doing" mit dem einzigen Vorteil, dass man zu Hause bleibt und sich die Anreise zu einem Kursort erspart. Nach einiger Weile belegte ich schon einen Lehrgang für Fortgeschrittene nach einer weiteren bekannten Art: "try and error". Erkenntnis durch Erfahrung ist ein bekannt guter Weg sich fortzubilden, aber ein sehr zeitaufwendiger, doch Zeit hatte ich. Schon nach wenigen Wochen erledigte ich für Freunde und Bekannte kleine Büroarbeiten, textete Werbemailings und begann auch schon, den Computer gestalterisch einzusetzen. Die technischen Möglichkeiten hardware- und softwareseits waren Anfang der achtziger Jahre noch eher dürftig. Kleine Erfolge waren Ansporn genug um diesen Weg weiterzuverfolgen, das gestalterische Schaffen bereitete mir die meiste Freude, entsprechende Response aus meinem Umfeld waren Bestätigung. Zuwendungen für mein bescheidenes Wirken wurden umgehend in die neueste Computertechnologie investiert. Direkte Weiterempfehlungen und Mundpropaganda waren die einzigen Referenzen und Werbeanstrengungen. Denn meine körperlichen Ressourcen sind begrenzt, eine 8-Stunden-Dauerleistung unmöglich, so werden meine Herausforderungen auch zu den unüblichsten Tageszeiten erledigt. Denn Creativität kennt keinen 8-Stunden-Arbeitstag mit Kernzeitregelung.
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Der Arbeit am PC können positive und negative Seiten abgewonnen werden. Befürworter betonen, wie sie Lösungsansätze für verschiedenste Probleme bieten, denen behinderte Menschen im Zusammenhang mit ihrem Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Durch PC-Arbeit am Arbeitsplatz zu Hause fällt der meist mühsame und zeitaufwendige Arbeitsweg weg, der für behinderte Personen mit vielen Hürden architektonischer und verkehrstechnischer Art verbunden ist. Zudem vergrössert sich die Zahl der potentiellen Arbeitgeber, da auch für Firmen gearbeitet werden kann, die für Behinderte sonst nicht erreichbar wären. Ein weiterer positiver Aspekt für den Arbeitgeber wie auch für den behinderten Arbeitnehmer ist die Tatsache, dass es keine Probleme mit der Zugänglichkeit von sanitären Anlagen, den Parkplätzen, dem Personalrestaurant u.a.m. gibt.
Die Nachteile, die nicht zu unterschätzen sind und die sowohl für behinderte wie auch für nichtbehinderte Arbeitnehmer gelten, sind die fehlenden Kontakte mit Arbeitskollegen und -kolleginnen. Die Gefahr von Isolierung und Vereinsamung ist um so grösser, je weniger jemand in ein soziales Umfeld eingebunden ist. Da behinderte Menschen bereits einer stärkeren gesellschaftlichen Isolation ausgesetzt sind, besteht die Möglichkeit, durch PC-Heimarbeit noch mehr abgesondert zu werden. Zudem fällt es vielen schwer, sich selbst zu motivieren und zwischen Arbeit und Privatleben zu trennen, ob dies nun zu Gunsten oder zu Ungunsten der Arbeit ist. Andererseits kann diese Art der Arbeit auch etwas zur Entschärfung von Abhängigkeiten beitragen, wie sie manchmal zwangsläufig zwischen Behinderten und Nichtbehinderten am Arbeitsplatz bestehen, genauso wie zur Vermeidung von Konflikten unter denselben.
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Der Begriff "Behinderung" wird im Deutschen oft sehr undifferenziert gebraucht und ist deshalb auch schwer fassbar. Rückgreifend auf den englischen Sprachgebrauch bietet die WHO (World Health Organisation) in diesem Zusammenhang ein Begriffssystem an, bei dem sie zwischen "impairment", "disability" und "handicap" unterscheidet. Die Definitionen lauten wie folgt: Impairment: "any loss or abnormality of a psychological or anatomical structure or function"
Disability: any restriction or inability (resulting from an impairment) to perform an activity in the manner or within the range considered normal for a human being"
Handicap: "any disadvantage for a given individual, resulting from an impairmant or a disability, that limits or prevents the fulfillment of a role that is normal... for that individual"
(World Health Organisation, Division of Mental Health and Prevention of Substance Abuse, and WHO Collaborating Centres, 1980)
Bezüglich der deutschen Übersetzung der Begriffe herrscht Uneinigkeit. Einer Übersicht der WHO kann entnommen werden, dass sie meist mit Schaden/Schädigung für "impairment", mit Behinderung für "disability" und mit Benachteiligung/Beeinträchtigung/Behinderung für "handicap" übersetzt werden. Dabei spricht der erste Begriff eine medizinische, die zwei letzteren hingegen eine soziale Kategorie an.
Die Definitionen umfassen also Störungen auf organischer Ebene (impairment), Beschränkungen beim Ausüben von Aktivitäten, denen die behinderte Person ausgesetzt ist (disability), sowie Einschränkungen auf sozialer und/oder beruflicher Ebene, wenn dies aus dem Blickwinkel der als Norm geltenden Möglichkeiten betrachtet wird. Wichtig ist vor allem, dass mit dem Begriff "Behinderung" nicht ein Gesundheitszustand an sich beschrieben, sondern dass damit die Dimension der sozialen Beeinträchtigung wiedergegeben wird. Bei einer Behinderung handelt es sich also um eine "funktionale Einschränkung bezüglich der Normen und Anforderungen der Sozietät".
Diese Ausführungen weisen darauf hin, dass von Behinderung hauptsächlich vor dem Hintergrund von Norm bzw. Normalität gesprochen wird, denn der Terminus "Normalität" scheint im Zusammenhang mit einer Behinderung bzw. mit einem behinderten Körper eine unausweichliche Bezugsgröße zu sein. Jedoch birgt der Begriff der Normalität "die große Gefahr einer diffamierenden Zuschreibung bei Abweichungen und ist wissenschaftlich kaum greifbar". Trotzdem ist sie meist das wesentliche Kriterium, auf das sich die Definition von Behinderung bezieht.
Genau an diesem Beispiel zeigt sich, dass die Begriffe Behinderung und Normalität keine absoluten, sondern gesellschaftlich konstruierte Konzepte sind. Jemanden als behindert zu bezeichnen, muss deshalb immer als eine Zuweisung betrachtet werden, die sich auf eine bestimmte Lebenswelt und deren Anforderungen bezieht.
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Integration heisst (wie dies viele andere sogenannte gesellschaftliche Minoritäten formulieren) Akzeptanz als Gleiche in ihrer Andersartigkeit. Einer Tätigkeit nachzugehen bedeutet für viele Behinderte am sozialen Leben teilzunehmen, ihre Leistungsbereitschaft und -fähigkeit unter Beweis stellen zu können und schliesslich auch eine relative ökonomische Selbständigkeit zu erreichen. Wie Nichtbehinderte erheben sie den Anspruch, sich durch die Beschäftigung verwirklichen zu können und eine befriedigende Tätigkeit auszuüben. Die Berufstätigkeit dient als Mittel, um die Anerkennung als ein vollständiges Mitglied der Gesellschaft zu erringen. Es scheint also nicht nur der ökonomische Faktor eine Rolle zu spielen, sondern von noch grösserer Bedeutung ist es, den Status einer vollwertigen Person innezuhaben. Diese Position kann ihrer Ansicht nach erst durch einen Leistungsbeweis errungen werden. Das Paradoxon liegt aber darin, dass sozialer Aufstieg und die Verteilung von Berufspositionen meist nicht durch Leistung bestimmt sind, sondern durch die Ausgrenzung von anderen wie zum Beispiel älterer Arbeitnehmer, Frauen, Andersgläubiger und nicht zuletzt auch von Behinderten.
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Trotz der technisch vorhandenen Möglichkeiten bleibt die berufliche Integration für viele körperlich behinderte Personen, die durchaus in den freien Arbeitsmarkt eingliedert werden könnten, ein Wunschtraum. Unsere europäische Arbeitsgesellschaft ist noch zu wenig für die Hindernisse und Probleme von behinderten Mitmenschen sensibilisiert. Positive Massnahmen, wie sie auch im Zusammenhang mit derGleichbehandlung der Geschlechter gefordert werden, könnten im gleichen Zug für behinderte ArbeitnehmerInnen getroffen werden. In dieser Hinsicht ist in Europa noch viel Arbeit zu leisten. Für Anregungen und Wege der Verwirklichung lohnt sich auch jeweils ein Blick über die Landesgrenzen.
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